
Pränatale Geschmacksbildung
Basis für das künftige Essverhalten
Es ist das erste, was wir im Mutterleib wahrnehmen: Noch bevor wir hören oder sehen können, schmecken wir.
Als Fötus lernen wir die Geschmacksrichtungen der Lebensmittel kennen, die unsere Mutter zu sich nimmt. So entstehen erste Wegweiser für spätere Geschmacksvorlieben.
Erste Geschmacksprägungen
Die ersten Erfahrungen in Sachen Geschmacksbildung werden schon im Mutterleib gemacht. Das Geschmackssystem entwickelt sich beim Fötus bereits im Frühstadium der Schwangerschaft. Die Zunge mit den Geschmacksknospen entsteht im zweiten Schwangerschaftsmonat. Ab dem dritten Monat nimmt das Ungeborene den Geschmack des Fruchtwassers wahr; es trinkt davon täglich zwischen 200 und 760 ml. Schon vor der 28. Woche reagiert es nachweislich positiv auf süße Geschmacksreize. Wie alle Säuglinge schlucken wir schon im Mutterleib das Fruchtwasser und nehmen dabei die typischen Komponenten dieser nährstoffreichen Flüssigkeit wahr. Wir schmecken vor allem die Süße der darin enthaltenen Zuckerarten Glukose und Fruktose, die Aminosäuren und Fettsäuren. Durch diesen indirekten Kontakt über das Fruchtwasser lernen Ungeborene schon im Mutterleib verschiedene Aromen und Geschmackseindrücke kennen. Wenn die werdende Mutter in der Schwangerschaft nämlich bestimmte Nahrungsmittel bevorzugt hat, so akzeptiert viel später ihr Nachwuchs diese Lebensmittel eher als andere. Je mehr Vielfalt der mütterliche Speiseplan aufweist, desto weniger Abneigungen finden in der späteren Phase der sogenannten Neophobie (Abneigung gegen Neues) statt. Aber Achtung: Wenn Schwangere demnach also aktiv das spätere, gesunde Essverhalten ihrer Kinder beeinflussen können, können im Umkehrschluss mütterliche „Fehlgriffe“ ebenfalls Spuren hinterlassen. Die „Programmierung“ funktioniert in jede Richtung. Demzufolge ist eine gesunde ausgewogene Kost während der Schwangerschaft umso wichtiger.
Rolle der Muttermilch
Dieser geschmackliche Prägungsprozess geht nach der Geburt weiter, wobei dem Stillen bei der Geschmacksentwicklung eine zentrale Bedeutung zukommt. Das mütterliche Essverhalten wird mit der Muttermilch übertragen. Ein Phänomen ist bei allen Neugeborenen jedoch gleich und weltweit zu beobachten: Sie lehnen zunächst alles, was sauer, salzig und bitter ist ab. Süßes dagegen wird klar von ihnen bevorzugt, lässt sie entspannen und – wie Studien belegen – sogar lächeln. Die Vorliebe auf Süßes scheint also angeboren, was von Mutter Natur clever eingerichtet wurde, denn eines ist sicher: Nichts auf der Welt schmeckt süß, ist aber gleichzeitig giftig. Haben Speisen und Getränke dagegen einen bitteren Beigeschmack werden sie von den Kleinsten abgelehnt. Bitter ist nämlich der Geschmack in der Natur vorkommender Giftstoffe. Manch einer ändert dies im Laufe seiner Geschmacksentwicklung nie, manch einer erst in seiner zweiten Lebenshälfte. So wird also das Ungeborene schon darauf vorbereitet, dass „da draußen“ süß gleichbedeutend mit gewisser Sicherheit ist. Was dem Neugeborenen ja dann beim ersten Stillen auch gleich bestätigt wird. Denn aufgrund des enthaltenen Milchzuckers schmeckt auch die Muttermilch leicht süßlich. Muttermilch ist auch vom Geschmack her deutlich vielfältiger als Flaschenmilch. Denn mit dem, was die Stillende gegessen hat, verändern sich auch immer wieder die Geschmacksstoffe ihrer Muttermilch – wie schon zuvor in der Schwangerschaft das Fruchtwasser. Isst die Mutter beispielsweise viel und vor allem auch verschiedene Gemüsesorten, wird auch ihr Kind beim Beikost-Start bei diesen Aromen weniger Abneigung bzw. Neophobie zeigen als Flaschenkinder. Es heißt sogar, dass diese frühen aromatischen Erfahrungen dafür sorgen, dass ein Kind zukünftig aufgeschlossener für abwechslungsreiche Gerichte ist und dabei pflanzlichen Lebensmitteln mit niedrigem Energiegehalt wie Obst und Gemüse den Vorzug gibt. Deswegen wird Stillkindern auch ein niedrigeres Risiko, später dick zu werden, nachgesagt. Stillen beeinflusst in jeder Hinsicht die Geschmacksentwicklung positiv.
Neophobie? – ganz normal
Etwa im zweiten Lebensjahr neigen viele Kinder zu Neophobie. Neophobie ist die Abneigung, Neues zu essen. Die angeborene Skepsis von Kleinkindern gegenüber Neuem gegenüber ist eine kluge Strategie, schließlich können sie ja nicht sicher sein, ob ihnen die unbekannten Speisen auch bekommen. Diese Aversion ist in der kindlichen Geschmacksentwicklung ganz normal, der Geschmacks- und Geruchssinn sind in diesem Alter immer noch nicht vollständig entwickelt. Die Phase der Neophobie sollte für alle Eltern aber kein Grund zum Verzweifeln sein. Achten Sie beim Nahrungsangebot schon bei der Beikost auf Vielfalt, ohne eine Ablehnung zu dramatisieren. Denn mit viel Geduld und vor allem ohne Druck akzeptieren die meisten Kinder über kurz oder lang beinahe alle neuen Lebensmittel. Kindliche Mäkelei bei Tisch hat also ihre guten Gründe. Kinder essen das gern, was sie häufig essen. Ernährungspsychologen nennen diese Entwicklung die „erfahrungsbedingte Gewohnheitsbildung". Die Geschmacksvorlieben entfalten sich in den ersten sechs bis sieben Lebensjahren und bleiben ein Leben lang bestehen.
Tipp: Gesunde Geschmacksent-wicklung – Vielfalt ist gefragt
Nach der Stillzeit beginnt das eigentliche Geschmackstraining. Sobald das Baby mit etwa sechs Monaten Brei isst, sollte man es langsam an neue Lebensmittel heranführen. Je einfacher die Zutatenliste anfangs ist, desto besser. Das Kind kann so den Eigengeschmack der Speise kennenlernen. Ernährt sich die Mutter vielseitig und ausgewogen, so kann sie auch das Ungeborene darauf „programmieren“ und die spätere Phase der Neophobie positiv beeinflussen. Und wer schon während der Schwangerschaft gesund ernährt wurde, greift später eher zu gesundem und ausgewogenem Essen. Der menschliche Geschmackssinn entwickelt sich durch permanentes Training, Geschmack selbst verändert sich ein Leben lang. Mit dem Essen ist es wie beim Erlernen von Motorik oder Sozialverhalten – der Familie und vor allem den Eltern kommt Vorbildfunktion zu. Ihnen eifern die Kleinen auch bei der Ernährung nach. Die grundlegende Ausrichtung allerdings wird in der Schwangerschaft gelegt, denn wer im Bauch der Mutter vielfältige Geschmackserlebnisse macht, lässt sich später leichter auf neue und ungewohnte Nahrungsmittel ein.